Sadhguru erklärt am Beispiel des Mahabharata, wie wir aus der Geschichte lernen können, insofern wir bereit sind, den geschichtlichen Verlauf und die Charaktere nicht zu beurteilen.

Fragestellerin: Da du Mahabharata, Ramayana und all diese Schriften erwähnt hast...

Sadhguru: Wenn ich das richtigstellen darf – wir sollten nicht missverstehen, was eine Heilige Schrift ist und was eine sehr organische Art ist, unsere Geschichte niederzuschreiben. Ein Epos ist ein historisches Dokument, das in einer lebendigen Form aufgeschrieben wurde, damit es für uns immer relevant ist. Derzeit ist die westliche Art, Geschichte niederzuschreiben, so: „Dieser König kam. Er hat so viele Menschen getötet. Er hat dies getan. Er hat das getan. Er starb. Und dann kam der nächste. Er tat dies. Er tat das. Er starb.“ Was willst du damit anfangen? Ob jemand vor tausend Jahren gelebt hat oder gestorben ist, was kümmert dich das? Aber wenn du Ramayana oder Mahabharata liest, dann sind das lebendige Geschichten, damit du dich auch heute noch mit ihnen identifizieren kannst. Das ist echtes Lernen aus der Vergangenheit. Die Grundlage des Menschseins ist, dass wir aus den Erfahrungen anderer lernen können. Der ganze Unsinn muss uns nicht widerfahren. Vielleicht ist es vor 5000 Jahren passiert, aber wir können unser Leben immer noch korrigieren, indem wir uns ansehen, was ihnen widerfahren ist.

Über den Autor und den Chronisten

Die erste Version des Mahabharata, die von Ganapati selbst niedergeschrieben wurde, hatte über 200.000 Verse. Als Vyasa die Geschichte erzählen wollte und jemanden brauchte, der sie aufschrieb, fand er keinen besseren Chronisten als Ganapati. Aber Ganapati war gelangweilt von dieser Art von Gelehrsamkeit. Er sagte: „Wenn ich erst einmal anfange zu schreiben, darfst du keinen Moment Pause machen. Wenn ich ein Wort schreibe, sollte das nächste Wort bereits kommen. Wenn du zögerst, werde ich das Projekt beenden. So musst du fortfahren, die Geschichte zu erzählen, dass ich nie eine Pause habe. Bist du dafür bereit?“ Vyasa sagte: „Gut, denn diese Geschichte ist nichts, was ich mir ausdenken werde. Diese Geschichte lebt in mir – sie wird einfach ihren Ausdruck finden. Die einzige Bedingung ist, dass du kein einziges Wort aufschreibst, das du nicht verstehst.“

Sie machten einen sehr cleveren Deal, und Vyasa erzählte die Geschichte – diese 200.000 Verse, die viele Hunderte von Charakteren darstellen, die keine Gastauftritte sind. Für jeden von ihnen werden alle Aspekte ihres Lebens in enormer Ausführlichkeit beschrieben – ihre Geburt, ihre Kindheit, ihre Heirat, ihre Askese, ihr Sadhana, ihre Eroberungen, ihre Freuden, ihr Elend, ihr Tod, und für die meisten von ihnen sogar ihr früheres Leben ebenso wie ihr nächstes Leben. Das Mahabharata ist etwa zehnmal so lang wie die Odyssee und die Ilias zusammengenommen.

Verurteile es nicht – lebe es

Es geht nicht darum, hier im 21. Jahrhundert zu sitzen und Urteile über Menschen zu fällen, die vor 5000 Jahren gelebt haben – das wäre höchst unfair. Ich bin mir sicher, wenn sie jetzt lebendig werden und dich sehen würden, hätten sie schreckliche Urteile über dich zu fällen, so wie du bist. Es geht nicht um gut oder schlecht, richtig oder falsch. Hier geht es darum, die menschliche Natur zu erforschen, wie sie noch nie irgendwo anders erforscht wurde. Es handelt sich lediglich um ein Erforschen – ziehe keine Schlussfolgerungen.

Vyasa, der die Geschichte zum ersten Mal erzählt hat, nahm diese Herausforderung an, weil er dafür sorgen wollte, dass die Geschichte lebt. Seitdem haben Tausende von Menschen ihr eigenes Mahabharata geschrieben, mit leichten Anpassungen. Es gibt Anpassungen an verschiedene Regionen des Landes, verschiedene Kasten, Glaubensrichtungen und Stämme. Jeder Geschichtenerzähler, die Menschenmenge vor sich sehend, hat seine eigenen Anpassungen vorgenommen. Aber die Geschichte ist nicht durch Anpassungen verunstaltet. Sie wurde dadurch nur bereichert, denn in diesen 5000 Jahren hat niemand die Geschichte je durch den Versuch, sie zu beurteilen, verunstaltet. Das solltest du auch nicht tun. Denke nicht in Kategorien wie: „Wer ist der Gute? Wer ist der Böse?“ So ist es nicht. Das sind einfach Menschen.

Eine Geschichte ist eine großartige Gelegenheit, den größten Krieg durchzumachen, ohne einen einzigen Kratzer abzubekommen.

Bei Dharma und Adharma geht es nicht um richtig und falsch, gut und schlecht. Es handelt sich nicht um eine Art Verhaltenskodex für Könige, Priester oder die Bürgerschaft. Es ist ein Gesetz, das dir, wenn du es erfasst, erlaubt, dich auf die Wahrheit zuzubewegen. Wenn du die Geschichte lebst, ist das ein sehr kraftvoller spiritueller Prozess. Wenn du die Geschichte beurteilst, kann sie in deinem Leben für viel Verwirrung sorgen, denn danach wirst du nicht mehr wissen, was gut und was schlecht ist, was du tun und was du lassen sollst, ob du in einer Familie leben oder in den Dschungel gehen sollst, ob du einen Krieg führen sollst oder nicht. Wenn du diese Geschichte lebst, wirst du verstehen, dass Dharma dir erlaubt, diesen Lebensprozess zu einer Treppe zum Göttlichen zu machen. Andernfalls machst du diesen Lebensprozess zu einem Höllenritt – das ist es, was viele Menschen tun.

Lass beiseite, was du über das Ende von Mahabharata weißt. Wenn du die Schönheit deines Lebens erforschen willst, musst du die Schönheit der Geschichte erforschen, ohne an das Ergebnis zu denken. Eine Geschichte ist eine großartige Gelegenheit, den größten Krieg durchzumachen, ohne einen einzigen Kratzer abzubekommen. Es ist wichtig, das durchzumachen, denn für die meisten Menschen wird die menschliche Erfahrung weitgehend durch ihre Gedanken und Gefühle geprägt.

Editor's Note: Im folgenden Video über den Krieg zwischen Russland und der Ukraine erklärt Sadhguru, was die Ursache dafür ist und was wir tun müssen, um ihn zu beenden.