Sadhguru sagt, dass es im Augenblick für uns nichts Wichtigeres gibt, als das menschliche Bewusstsein zu heben. Werfen wir also anhand seiner anschaulichen Erzählung einen Blick auf das Wesen, das der Menschheit die Wissenschaft des Yoga vermittelt hat, den Adiyogi, den ersten Yogi.

Sadhguru: Warum ist Adiyogi, der Shiva, fortwährend Teil meiner Invokationen? Das ist eine Frage, die mir oft gestellt wird. Die Antwort darauf ist einfach. Es ist nicht deswegen, weil ich das Göttliche vermenschlichen möchte. Es ist nicht deswegen, weil ich eine vom rechten Weg abschweifende Form der heidnischen Anbetung einführen möchte. Es ist nicht deswegen, weil ich einen östlichen Kult einführen möchte. Ich rufe ihn einfach deshalb an, weil er lebenswichtig für unsere Zeit ist. Und er ist lebenswichtig, weil es im Augenblick nichts Wichtigeres gibt, als das menschliche Bewusstsein zu heben. Wir haben die Werkzeuge und Technologien in der Hand, mit denen wir diese Welt zu einem Paradies machen, oder sie in eine lebende Hölle verwandeln, oder sie aufgrund unserer eigenen Möglichkeiten vollständig vernichten können. Mit anderen Worten, wir sind an einem Punkt angelangt, an dem, wenn wir das menschliche Bewusstsein nicht heben, unsere Intelligenz und unsere Fähigkeiten gegen uns arbeiten werden. Wir rasen mit hoher Geschwindigkeit auf eine Selbstsabotage zu. Wie haben wir uns in diesen Schlamassel gebracht? Wir sind so weit gekommen, weil wir unseren Intellekt auf Kosten unserer Innerlichkeit entwickelt haben.

Nähen mit einem Messer

Im Moment machen wir vom Intellekt als einziger Fähigkeit Gebrauch und missverstehen ihn als das Ganze, wobei wir vergessen, dass der Geist viel mehr ist als das. Der Intellekt ist eine gewaltige Ressource. Für sich allein genommen ist er jedoch ein Desaster, denn während die anderen Dimensionen des Geistes erweiternd wirken, kann der Intellekt nur spalten. Er erlaubt dir nicht, einfach mit irgendetwas ganz und gar zusammen zu sein. Die Natur des Bewusstseins ist Inklusion. Das Bewusstsein ist eine einzige große Umarmung des Universums. Wenn diese Erfahrung nicht einem ermächtigten Intellekt widerfährt, wird dieser Intellekt die Welt zerstören. Im Orient gibt es mehrere Sprichwörter, die besagen, dass Menschen, wenn sie Symptome eines überaktiven Intellekts zeigen, auf die totale Zerstörung zusteuern. In der Isolation ist der Intellekt spaltend: er ist in der Lage, sogar das Selbst in verschiedene Teile aufzuspalten! In der heutigen Welt gibt es viele Bemühungen um Einheit. Aber wir versuchen, alles mit dem Intellekt zusammenzufügen. Es ist, als würdest du versuchen, die Welt mit einem Messer zusammenzunähen – es wird alles nur in Fetzen hinterlassen.

Der fehlende Bestandteil

Der entscheidende Bestandteil, der heute in der Welt fehlt, ist das, was im Yoga „Chitta“ oder die tiefste Dimension des Geistes genannt wird. Das ist eine von der Erinnerung unbefleckte Intelligenz, die dich mit der eigentlichen Grundlage der Schöpfung verbindet. Chitta ist Bewusstheit, die Intelligenz der Existenz selbst, der ganze Kosmos im lebendigen Geist. In der yogischen Tradition wird gesagt, dass wenn man sich von den Zwängen seiner genetischen und karmischen Software sowie von den Eigeninteressen und Identifikationen seines Intellekts distanziert, man mit Chitta in Berührung kommt, einem ungetrübten Bewusstsein. Jetzt kehrt dein Leben zu der Seinsweise zurück, wofür es immer bestimmt war – freudestrahlend lebendig, frisch, makellos. Selbst das Göttliche hat keine andere Wahl, als dir zu dienen. Adiyogi, der erste Yogi, wird in einem solchen Kontext enorm bedeutsam, weil es auf diesem Planeten niemanden gibt, der so viel erforscht und offenbart hat wie er. Im Hinblick auf die Schaffung des umfassendsten und ausgeklügeltsten Systems der menschlichen Selbsterkenntnis – 112 Methoden, mit denen Menschen ihr volles Potenzial erforschen und erlangen können – gibt es niemanden, dessen Beitrag den seinen übersteigt.

Erkennen, nicht Wissen

Adiyogi kannte das Leben, indem er eins mit ihm wurde – nicht zerebral, sondern erfahrungsmäßig. Ein Yogi ist jemand, der die Einheit mit der gesamten Existenz erfahren hat. Was Adiyogi repräsentiert, ist Erkennen, nicht Wissen. Wissen ist eine intellektuelle Sammlung. Erkennen ist andererseits weder intellektuell noch angesammelt. Wenn du an einer blühenden Pflanze vorbeigehst und die Chemie ihres Duftes kennst, ist das eine Dimension des Wissens. Wenn du die Erfahrung und die Ekstase dieses Duftes kennst, ist das eine weitere Dimension des Wissens. Aber wenn du zum Duft wirst, ist das Erkennen. Ein Erkennen, das zu 100 Prozent erfahrbar ist, zu 100 Prozent lebendig, hier und jetzt. Das ist es, was Adiyogi repräsentiert. Deshalb kann er trotz der Versuche, ihn sich zu eigen zu machen, nicht durch irgendeine Schrift, ein Dogma oder eine Doktrin domestiziert werden. Die Natur hat dem Menschen einige Gesetze aufgestellt. Das Durchbrechen der zyklischen Gesetze der physischen Natur ist die Grundlage des spirituellen Prozesses, den Adiyogi erforschte. In diesem Sinne ist Yoga eine Wissenschaft für diejenigen, die Gesetzlose sein wollen. Und das ist es, was Adiyogi repräsentiert: den ultimativen Gesetzlosen.

Editor's Note: Im Video „Die Nacht der Yogis“ bekommst du ein paar Eindrücke von Mahashivratri und erfährst mehr über die Hintergründe dieses großen indischen Festes, an dem das spirituelle Potenzial des Menschen gefeiert wird.